Der verkannte Pionier: Étienne Lenoir und die Revolution des Verbrennungsmotors
Am 12. Januar 1822 wurde in der kleinen Stadt Mussy-la-Ville, die seit 1830 zur belgischen Region Wallonien gehört, das dritte Kind von acht Geschwistern geboren, das die Welt der Technik revolutionieren sollte: Jean-Joseph Étienne Lenoir. Seine Geschichte ist gleichermaßen inspirierend wie tragisch – ein Beispiel dafür, wie bahnbrechende Erfindungen und persönliches Schicksal auseinanderklaffen können.
Die frühen Jahre und der Weg nach Paris
In bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, erlebte der junge Lenoir hautnah die dramatischen Veränderungen der industriellen Revolution. Die Wallonie, nach Großbritannien eine der wichtigsten Industrieregionen Europas, bot dem wissbegierigen Jungen ein faszinierendes Schauspiel: Überall wurden traditionelle Arbeitsmethoden durch moderne Maschinen ersetzt. Bereits mit zwölf Jahren formulierte er seinen Lebenstraum:
„Wenn ich groß bin, werde ich Maschinen bauen, neue Maschinen, Maschinen, die ganz allein laufen.“
1838, mit gerade einmal 16 Jahren, wagte Lenoir den mutigen Schritt nach Paris. Ohne formale Ausbildung, aber mit unbändigem Wissensdurst, verdiente er seinen Lebensunterhalt in verschiedenen Werkstätten und bildete sich autodidaktisch weiter. Die kostenlosen Vorlesungen am renommierten Conservatoire des Arts et Métiers, wo einige Jahrzehnte zuvor Professoren mit Sadi Carnot gearbeitet hatten, wurden seine Universität.
Der Weg zum ersten Verbrennungsmotor
Seine erste bedeutende Erfindung – ein Verfahren zur oxidationsfreien Fixierung weißer Emaille auf Zinn – brachte ihm sein erstes Patent ein. In den 1850er Jahren folgten weitere Patente im Bereich der Elektrochemie und Elektromechanik. Diese frühen Erfolge ermöglichten es ihm, sich seiner wahren Leidenschaft zu widmen: der Entwicklung eines neuartigen Motors.
Am Conservatoire des Arts et Métiers knüpfte Lenoir einen wichtigen Kontakt zu Alfonse Beau de Rochas, der sich bereits mit Flugzeugmotoren beschäftigt hatte. Beau de Rochas sollte ihm in der Folge bei seiner Forschung rund um Motoren mit sehr wertvoller Hilfe und Unterstützung zur Seite stehen. Besonders hilfreich war er, als Lenoir seinen ersten praktischen Verbrennungsmotor entwickelte. Sein Freund Hippolyte Marinoni erlaubte ihm, den Motor in seiner mechanischen Werkstatt im Zentrum von Paris zu bauen.
Der erste Motor wurde in den Jahren 1858-60 entwickelt und war ein 2-Takt-Gasmotor ohne Verdichtung (obwohl er manchmal auch als 1-Takt-Gasmotor bezeichnet wird) mit Doppeleffektkolben – ein System, das bereits 1801 von Philippe LeBon vorgeschlagen wurde, dem Mann, der besser dafür bekannt ist, Gaslampen zur Beleuchtung von Paris zu verwenden.
Technische Innovation und Durchbruch
Lenoir war in der Lage, verschiedene existierende Ideen zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzufügen:
- Robert Streets Kolben
- Die Fremdzündung von Isaac de Rivaz
- Eine von Heinrich Daniel Rühmkorff entwickelte Spule
Sein Genie bestand darin, das Verbrennungssystem so zu arrangieren, dass ein bereits fertiger Motor regelmäßig Strom lieferte. Der Motor von Lenoir hatte beeindruckende technische Daten für seine Zeit:
Hubraum: 18 Liter
Maximale Leistung: 2 PS bei 130 U/min
Wirkungsgrad: zwischen 4,5 und 5%
Die Zeit um 1860 war geprägt von dramatischen gesellschaftlichen und technologischen Umwälzungen. Die industrielle Revolution hatte bereits große Teile Europas erfasst und führte zu bedeutenden Veränderungen in der Landwirtschaft, im Handwerk und im Transportwesen. In diesem Kontext war der Bedarf an effizienteren Energiequellen und Antriebssystemen dringlicher denn je.
Öffentliche Anerkennung und weitere Entwicklungen
Am 31. Juli 1860 präsentierte Lenoir seinen Gasmotor zum ersten Mal der Öffentlichkeit in Paris. Diese Vorführung sorgte in technischen Kreisen für enormes Aufsehen. Einer der begeisterten Zuschauer, der junge Ingenieur Pierre Dubois, berichtete später:
„Als ich zum ersten Mal diesen grollenden Klang hörte und sah, wie sich der Kolben bewegte – ich wusste sofort, dass ich mein Leben dem Maschinenbau widmen wollte! Es fühlte sich an wie ein Blick in die Zukunft.“
Im Jahr 1860 erhielt Lenoir das Patent Nr. 43624 für „einen durch Gasverbrennung erweiterten Druckluftmotor“. Innerhalb eines Jahres wurden 380 dieser Motoren von der Firma Lenoir-Gautier hergestellt.
Wie bei den Dampfmaschinen vor ihm wandte sich Lenoir auch dem Transport zu und stattete 1861 ein Boot mit seinem Motor aus. 1863 entwickelte er das „Hippomobile“, dessen Motor mit Wasserstoff betrieben wurde, der durch Elektrolyse von Wasser erzeugt wurde. Er war damit seiner Zeit mehr als ein Jahrhundert voraus.

Weitere Forschung und Entwicklung
Lenoir setzte seine Forschung fort, um mehr Leistung und Effizienz aus seinem Motor herauszuholen. Er experimentierte in verschiedene Richtungen:
Verlängerung des Expansionshubs
Erhöhung des Gas-Luft-Verhältnisses
Umstellung auf einen 4-Takt-Zyklus mit Verdichtung (nach Vorschlag von Beau de Rochas)
Obwohl Lenoir mit seinen Automobilen nicht sehr erfolgreich war, wurden die Grundideen seines Motors von den deutschen Ingenieuren Otto und Langen für den Bau eines wesentlich leistungsfähigeren Viertaktmotors übernommen.
Weitere Erfindungen und späte Jahre
Lenoir machte noch weitere bedeutende Erfindungen, darunter ein Gerät zur telegrafischen Übermittlung von Dokumenten, das von der Armee während der Belagerung von Paris (1870-1871) eingesetzt wurde. Für diese Leistung erhielt er 1881 die französische Staatsbürgerschaft und wurde zum „Ritter der Ehrenlegion“ ernannt.
Dennoch zog Lenoir – wie die meisten Erfinder seiner Zeit – nur äußerst geringen wirtschaftlichen Nutzen aus seinen Entdeckungen. Er lebte in bescheidenen Verhältnissen, und nur dank der Fürsprache eines treuen Freundes sicherte ihm die Pariser Gasgesellschaft eine kleine Rente zu.
Letzte Ehrungen und Tod
Am 16. Juli 1900 ehrte der Automobilclub von Frankreich Etienne Lenoir mit einer Plakette, auf der zu lesen war: „In Anerkennung seiner großen Verdienste als Erfinder des Gasmotors und Erbauer des ersten Automobils der Welt“. Kurz darauf, am 4. August 1900, starb Jean-Joseph Étienne Lenoir und wurde auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise beigesetzt.
Das Erbe lebt weiter
Lenoirs Geschichte ist mehr als die Chronik einer technischen Innovation. Sie erzählt von der Kraft der Vision, vom Mut zum Aufbruch und von der oft bitteren Diskrepanz zwischen erfinderischer Genialität und wirtschaftlichem Erfolg. Sein Vermächtnis lebt nicht nur in jedem Verbrennungsmotor weiter, sondern auch als Mahnung, dass wahre Innovation oft nicht vom Erfinder selbst, sondern erst von nachfolgenden Generationen gewürdigt und belohnt wird.
Heute erinnern Straßennamen in Frankreich und Belgien an den Pionier, dessen Arbeit den Grundstein für die moderne Mobilität legte. Seine Geschichte lehrt uns, dass große Durchbrüche selten das Werk einzelner Genies sind, sondern das Ergebnis kollektiver Anstrengungen über Generationen hinweg – auch wenn einzelne Visionäre wie Lenoir den entscheidenden Funken zünden.
Schauen Sie gerne auch hier rein, dort finden Sie weitere Informationen zum Lebenswerk Étienne Lenoir .